"Meine sehr verehrten Damen und Herren. Wir bitten um Ihre Aufmerksamkeit. Bitte lassen Sie ihr Gepäck nicht unbeaufsichtigt!" ertönte die Durchsage zum hundertsten Male. Menschen liefen durch die Haupthalle, hetzten vom Check-In zum Gate. Familien schoben Kofferwägen umher während hier und da ein Babyschreien zu vernehmen ist. Es war Nacht. Doch hier im Flughafen war davon keine Spur zu erkennen. Der Betrieb ging seinen normalen Gang. Hektisch, laut, mit einem Hauch von Aufbruchstimmung. Aber hier bei ihm herrschte ein anderer Rythmus. Ein junger Mann saß auf der Bank zwischen Terminal und Einkaufsgeschäften. In seinen Ohren waren Plug-Ins und ein sanfter Beat lief rythmisch zu dem er seinen Kopf meditativ bewegte. Die Augen waren geschlossen. Und selbst wenn sie geöffnet gewesen wären, hätte man darin nichts als Leere und Träumereien gefunden. Ein sanfter Beatdrop und die Musik verstummte. Der Blick wanderte hoch zur Infotafel. So viele Flüge, so viele Orte. Wo sollte er hin? Nachdenklich tippte er mit dem Finger gegen sein Kinn. Der Blick wanderte über seinen Rucksack hin zu seinem Koffer. Er hatte für alles gepackt. Eine Badehose und Sonnenhut für warme Orte, eine dicke Jacke und Winterschuhe für kalte. Er könnte überall hin. Überall nur nicht hier, denn hier hält ihn nichts mehr. Ein kurzer trauriger Gedanke. Doch weiter darüber nachzudenken bringt nichts. Vor ihm stand eine Reise und danach kann er sich wieder um das Hier und Jetzt kümmern. Manche würden sagen, er liefe vor seinen Problemen weg. Er würde es eine Auszeit zu nennen. Eine Reise um neue Kraft zu schöpfen. Ein sehr spontaner Einfall. Doch was sagen die Leute so schön? Spontane Einfälle sind meistens die Besten. Zumindest in dem Punkt gab er ihnen Recht. Jetzt ist nur die Frage wohin...
Ein neuer Start. In einer neuen Welt. Nun, war alles möglich. Mit einem Koffer voller Notwendigkeiten, einem Kopf voller Pläne und einem Herz voller Leben öffnete sich die Welt. (Heimlich hatten sich eine Narbe voller Schuld, ein Gedanke voller Angst und ein Gefühl voller Zweifel mit ins Gepäck gemischt - sie wurden im Moment gekonnt ignoriert.)
Undefinierbares Summen, Brummen und Rauschen erfüllte den Flughafen. Immer, zu jeder Zeit, kaum in seiner ewigen Intensität abnehmend, fast schon angenehm durch seine Beständigkeit. Das Leben pulsierte hier. Menschen kamen, gingen, blieben nie lange. Ein Ort des Wandels, gleichbleibend in seiner Bestimmung zur Veränderung. Ein moderner Pfadbereiter für allerhand Menschen die auf ihrem Weg waren. Kalter Stahl spannte sich über das Dach des Gebäudes, schimmernd-scharfe Fensterfronten spiegelten die Träume und Gefühle der Reisenden wieder. Ein Käfig? Mehr ein Gewächshaus. Zuchtort der Werdenden.
Die Voraussetzungen waren gegeben, es galt nun, den nächsten Schritt zu wagen. Ein junger Reisender lies sich vom beständigen Herzschlages des Flughafens durch die Massen lenken, die Augen immer gen Anzeigetafel gerichtet. Florenz. New York. Chicago. Tokyo. Möglichkeiten über Möglichkeiten, kein Ende in sich. Wenn man die Chance ergreifen wollte, stand einem nun die Welt offen. Ein Romantiker hätte gesagt, Grenzen gibt es keine. Da Menschen dennoch überaus gut im Probleme schaffen waren, gab es sich doch, die Grenzen. Eine unverständliche Regelung, welcher sich ein Reisender wohl unterwerfen musste. Der Junge ließ den Blick auf sein Smartphone wandern, klickte sich fokussiert durch die vielen Last-Minute Flüge, welche die Google Suche ihm vorgeschlagen hatte. Süden oder Norden? Westen oder Osten? Der einzige Bestandteil dieser Reise, welcher bereits fest stand und sich auch nicht ändern würde, war die Rückreise. Es gab keine. One-Way Ticket. Nichts anderes. Mit einem erschöpften Seufzen ließ sich der Junge auf eine Bank nieder, hatte die Augen noch immer nicht von seinem Handy genommen. So viele Möglichkeiten, dass es schon überwältigend war. Der Flughafen brummte weiter, die Menschen eilten von A nach B, ungeahnt des Tumults in dem jungen Mann. Auch er ahnte nicht, dass eine weitere Person ähnliche Turbulenzen in seiner Reiseplanung durchmachte. Welch Ironie?
Ein Reiseziel nach dem anderen war auf der Anzeigetafel zu sehen. So viele Möglichkeiten... Er hätte sie am liebsten alle besucht. Manchmal ist die Freiheit eine Wahl zu treffen schlimmer als wenn alles feststeht. Fragend zückte er sein Smartphone und überlegte, wonach er suchen sollte. So als hätte irgendjemand geahnt, wonach er suche wurde ihm von Google direkt "10 spannende Reiseziele, die du noch nicht kennst!" als Werbevideo angezeigt. Diese Technik heutzutage... Jeder weißt über jeden Bescheid. Wenn es hilfreich wäre, hätte er gar nichts dagegen, doch von den 10 Reisezielen war nichts dabei, was nicht jeder kennen würde...
Sein Blick wanderte wieder hoch als sich ein anderer junger Mann neben ihn setzte. Er hatte das gleiche Gepäck wie er, blickt ebenso auf die Anzeigetafel und wieder aufs Smartphone. "hmm..." überlegte er. "Hat er das gleiche Problem wie ich?" So verrückt schien er doch nicht zu sein, wenn jemand anderes auch auf die Idee kam allein spontan irgendwo hinzureisen. Oder aber er war verrückter als er dachte, wenn er annahm, dass andere so dachten wie er, nur weil sie wie die meisten Reisenden einen Koffer und einen Rucksack als Reisegepäck haben und vor einer Anzeigetafel das Smartphone zücken. Er bemerkte ihn nicht weiter. Doch dann, hörte er etwas aus dem Smartphone nebenan, das ihm bekannt vorkam... "Hallo meine Lieben! Heute reden wir über 10 spannende Reiseziele, die du sicherlich noch nicht kennst! Los geht's!"
„Ah, so ein Unsinn!“. Das Video hatte sich so vielversprechend angehört. Okay, wenn er ganz ehrlich zu sich selbst war, hatte es sich überhaupt nicht so angehört. Aber hey, Not macht erfinderisch? In dem Fall wohl eher verzweifelt, da sogar Videos mit einer solch offensichtlichen Werbe Masche herhalten müssen. Mit einem Seufzen klickte er es nach den ersten 10 Sekunden weg. Alles das Gleiche. Bekannte, überlaufene Orte, auf jeden Fall nicht das, wonach er suchte. Doch, was war es eigentlich, was er suchte? Klar war, er würde die Antwort wissen, sobald er sein Ziel erreicht hatte. In der Zwischenzeit hieß es Improvisieren. „Inspiration fehlt mir trotzdem…“ Ein leises Grummeln, kaum hörbar zwischen dem restlichen Flughafen Lärm. Mit einem fast schon gequälten Gesichtsausdruck hebt der Junge das Gesicht wieder gen Anzeigetafel, in der Hoffnung auf neue Ideen. Im ersten Moment zeigen sich nur die üblichen Verdächtigen. Hauptstadt über Hauptstadt, Uralubsort nach Urlaubsort. Das war zum Haare ausreißen! Was also tun? Mit einem sachten Murren wandte er sich wieder ab. Wohin würde es eigentlich die anderen Reisenden verschlagen, die sich im Moment in der Wartehalle befanden? Mit einem metallischen Knarren ächzte eine Stimme über die Lautsprecher, rief in Richtung Gate K auf. Ein Flug nach Paris. Ein kleiner Haufen Menschen machte sich auf den Weg, die Meisten blieben zurück. Auch der Junge neben ihm blieb sitzen, hatte ebenso eine Handy in der Hand und sah ein wenig überrascht aus. In seine Richtung sogar? Hatte er etwas im Gesicht? War etwas nicht in Ordnung? „Entschuldigung?“